Vieles in Einem
Columna
Farbwald – Farbwelt
Der Farbwald
Die Wahrnehmung eines Kunstwerks beruht auf vielerlei Voraussetzungen. Sie hängt nicht nur davon ab, wie, sondern auch wo Werk und Betrachter sich begegnen. Der Standort konditioniert den Blick. Wenn es sich um einen „Kunstort“ handelt, ein Museum, eine Galerie, eine Messe, eine Ausstellung, ist die Begegnung zielgerichtet. Der Betrachter kommt als Betrachter. Er bringt eine Absicht und eine Erwartung mit. Die Kunst steht für ihn bereit. Der Standort hat seine Funktion und seinen Sinn darin, Kunst zu vermitteln. Wenn es sich hingegen um den öffentlichen, das heißt den offenen Raum handelt, kommt man nicht als Betrachter, sondern als Passant. Der urbane öffentliche Raum hat praktische, technische ökonomische und schließlich gesellschaftliche Funktionen. Kunst ist hier etwas, das hinzugefügt wird und zu den primären Funktionen – im Idealfall – in Beziehung tritt.
Damit sind zwei völlig verschiedene Plattformen der Kunstbegegnung beschrieben. Eine dritte kommt hinzu. Der Park oder die Gartenlandschaft unterscheiden sich von den Kunstorten durch ihre Funktion, vom allgemeinen öffentlichen Raum hingegen durch ihre Nutzung. Mehr als anderswo, mehr als auf Straßen und Plätzen, kommt hier der Mensch als Besucher. Er sucht nicht nur frische Luft und Ruhe, sondern Muße und Betrachtung. Er sucht das Schöne. Er kommt mit offenen Sinnen und ist bereit, aufzunehmen. Somit ist er vorbereitet auf die Begegnung mit der Kunst. Vorbereitet ist auch das Umfeld. Denn die Gartengestaltung ist für das Kunstgeschehen ein idealer Rahmen. Dennoch. Der Park ist kein Kunstort. Er ist ein offener pluralistischer Raum.
In diesem Spannungsverhältnis steht auch die Landesgartenschau 2015 in Landau. Als Garten auf Zeit zieht sie für die Dauer eines Sommers viele Menschen an. Sie ist ein zentrales Ereignis, indem sie schon im Vorfeld viel an Kreativität, an Planung, an Handwerk und an Aufwand auf sich konzentriert hat. Zu dieser zentripetalen Bewegung gehört auch, dass eine Reihe von Kunstwerken auf der Gartenschau zusammen kommt. Sie treffen auf einen gestalteten Rahmen und auf offene, erwartungsvolle Besucher. Und sie korrespondieren mit dem Garten ebenso wie mit den Menschen. Für diesen Dialog nach zwei Seiten wurde das Kunstobjekt Farbwald konzipiert.
Der Farbwald antwortet auf eine Umgebung, die sich vom Klischee der Gartenausstellung, der Blumenidylle und der Keukenhof-Kultur entfernt hat und somit einen neuen Anspruch einlöst. Die Schau gibt Beispiele heutiger Gartenarchitektur, indem sie nicht Gartenschmuck anhäuft, sondern Gartenraum gestaltet. In diesem Sinn pflanzt sich der Farbwald in ein Raumkonzept ein. Aus dem konzipierten wird rezipierter Raum. Das heißt, aus dem gestalteten wird für den Besuchszeitraum ein betrachteter, erlebter, verinnerlichter Raum – ein Raumgefühl, das der Farbwald verstärkt. Er antwortet auf die Waagerechte des Erdbodens durch die Senkrechte seiner Stelen, auf die leichte horizontale Abweichung der schrägen Rasenflächen durch eine entsprechende vertikale Abweichung seiner Farbbahnen. Er antwortet auf das Grün des weiten Rasens und des baumbestandenen Horizonts durch ein Spiel intensiver Rottöne.
Der Farbwald spricht Besucher an, die nicht zur Kunstbetrachtung auf das Gelände kommen, die aber für visuelle Eindrücke offen sind und sich dafür Zeit genommen haben. Sie brauchen keine aktuellen Erklärungen und keinen spezifischen Kunstverstand, um dieses Wahrnehmungsangebot anzunehmen und in ein subjektives Erlebnis umzusetzen. Sie sehen zunächst den Farbwald als einen auffallenden Fixpunkt auf der weiten Rasenfläche – als einen Fixpunkt allerdings, der sich nicht fixieren lässt. Denn da sie als Spaziergänger kommen und sich in einer Eigenbewegung befinden, nehmen sie den Farbwald als sich wandelndes Objekt wahr. Mit jedem Schritt, den sie zurücklegen, folgt ihnen der Farbwald, indem er ein neues Bild erzeugt. Das Objekt wird zum Film.
Der Blick auf den Farbwald gleicht dem Blick in einen natürlichen Wald. Auch hier ändert sich das Bild, indem der Betrachter bei jedem Standpunkt eine veränderte Konstellation der Baumstämme vorfindet. Auch der natürliche Wald ist ein Film, der vor den Augen des Wanderers abläuft. Dieser Wahrnehmungsmodus wird durch das Kunstobjekt verstärkt und zugleich reduziert auf einen exemplarischen Ausschnitt. Denn auf das Prinzip kommt es an, nicht auf die Ausdehnung des Waldes. Während der natürliche Wald von der Vielfalt individuell gewachsener Formen lebt, beschränkt sich der Farbwald auf ein einfaches Schema und gleicht diese Reduktion durch die hohe Effizienz der Bildgenese aus, durch das produktive Potential der Illusionen.
Die erste Illusion entsteht durch die plastische Beschaffenheit der Einzelelemente. Sie erscheinen wie Vierkant-Stelen, sind jedoch nur Winkel-Profile und damit offene oder „halbe“ Vierkant-Gebilde. Dieser Sachverhalt ist nur schwer zu erkennen und wird zusätzlich verschleiert durch die Positionierung der Elemente. Denn zum Teil sind die Winkel-Profile von außen, zum Teil von innen zu sehen. Sie sind in einem einfachen Raster angeordnet, das sich aber dem Betrachter nicht erschließt. Die filmische Bewegung vermittelt immer aufs Neue den Eindruck von Unregelmäßigkeit. Nicht einmal die Anzahl der Stelen lässt sich eindeutig feststellen, obwohl es nicht mehr als zwölf sind.
Die zweite Illusion bezieht sich auf die Exaktheit der Senkrechten. Der Eindruck des Schrägen ist vorherrschend und bestimmt schon den ersten Eindruck. Wir sind gewohnt, in allem Gebauten die Senkrechte als beherrschende Koordinate zu sehen. Je weiter die Zivilisation, die Urbanität und die Technisierung fortschreiten, umso beherrschender werden die Senkrechten. Im natürlich Gewachsenen gibt es die Senkrechte als Prinzip, im künstlich Konstruierten dagegen als exaktes Maß. Jede Abweichung davon wird als Störung und als Mangel erlebt. Sie wird geradezu empfindlich wahrgenommen. Dem setzt der Farbwald eine Attacke von Schrägen entgegen – Schrägen, die physisch nicht existieren. Denn die zwölf Stelen stehen präzise senkrecht. Ihre Kanten verlaufen streng parallel. Die Schräge existiert nur in der Farbschicht. Sie bildet eine gezielte Camouflage.
Der Farbwald thematisiert sich selbst. Er ist Wald. Und er ist Farbe. Das Farbgeschehen dominiert die materielle Gegebenheit und macht die Stelen zu reinen Farbträgern. Darin liegt die dritte Illusion. Denn so einfach die Konstruktion der Stelen, ihre Gleichartigkeit und ihre Positionierung im Raster sind, so einfach ist auch die Farbordnung. Eine reduzierte Farbskala verteilt sich streng schematisch auf die Außen- und Innen-Flächen der Winkel-Profile. Der Betrachter aber erkennt das Schema nicht, er nimmt auch nicht die Einfachheit wahr. Er erlebt ein komplexes Farbgeschehen, das sich zudem laufend ändert. Es gibt ganz wenige – seltene – Betrachterstandpunkte, die ein einfaches Farbbild liefern. Doch es verschwindet schon beim nächsten Schritt, so dass man glaubt, es nicht gesehen zu haben.
Dem Spiel der Farbflächen in ihrem unaufhörlichen Wechsel entspricht das Spiel der Zwischenräume, die sich öffnen und schließen und eine eigene Dramaturgie bilden. Sie lassen Umgebung – Welt – in das Bild eindringen. Denn tatsächlich ist der Farbwald ein Bild und kein Objekt. Er ist keinesfalls eine Plastik, sondern reine Malerei, ein Wahrnehmungsangebot, das nicht Form und Masse, sondern imaginären Raum und imaginäres Licht zum Gegenstand hat. Damit reiht er sich in die beherrschenden Eindrücke der Umgebung ein, die sich an die Kontemplation der Menschen richten. Er fügt sich in ein konsistentes Gesamtbild ein und zeigt wie sehr die Gärtner Maler sind – und die Maler Gärtner.
Zum Projekt Farbwald siehe auch Report 10/2013, 02/2015, 05/2015, 08/2015, 09/2015 und 12/2015.
Kontraste
Bildraum
Die Farbwand
Zur Farbwand
Zu dieser Ausstellung
Das Bild-Objekt „Illusion“
Der offene Rahmen
The Walking Horizon
Was ist Bildhaftigkeit?
Über die schweigende Fülle der Malerei
Versuch über bemerkenswerte Eindrücke
„Farbkonstrukte 1974–1990“